Im Frühjahr 1530 war die politische und religiöse Lage im Heiligen Römischen Reich mehr als angespannt. Kaiser Karl V. hatte zum Reichstag nach Augsburg geladen, um den immer tiefer werdenden Graben zwischen Katholiken und Protestanten zu überbrücken. Martin Luther, der geistige Vater der Reformation, durfte daran jedoch nicht teilnehmen – denn über ihm lag seit dem Wormser Edikt von 1521 die Reichsacht. Er durfte damit legal getötet werden. Ein freies Geleit war für ihn daher ausgeschlossen.
Doch ganz abseits blieb Luther nicht. Kurfürst Johann von Sachsen, sein großer Förderer, wollte ihn in seiner Nähe wissen. So zog sich der Reformator auf die südlichste Bastion Kursachsens zurück: die Veste Coburg. Von April bis Oktober 1530 wurde die Burg Luthers Zufluchtsort und gleichzeitig sein Schreibtisch, seine Kanzel und sein stilles Refugium.
Wie schon auf der Wartburg 1521 lebte Luther auch auf der Veste unter dem Schutz seines Landesherrn. Doch während er auf der Wartburg das Neue Testament übersetzte, widmete er sich in Coburg einer Vielzahl theologischer Aufgaben. In seinem "Studierstüblein" entstanden wichtige Schriften, und er schrieb sage und schreibe 119 Briefe – darunter viele an Philipp Melanchthon, der sich in Augsburg für die evangelische Sache stark machte. Ein Brief an seine „Tischgesellen“ in Wittenberg zeugt von Luthers Humor: Er beschreibt, wie vor seinem Fenster ein „Reichstag der Dohlen und Krähen“ tagte – mit lautem Gekrächze und Getöse, als ob diese Vögel trunken und toll geworden seien. Noch heute lassen sich diese Vögel auf der Veste beobachten.
Der Teufel als Ratte
Der Aufenthalt war aber nicht nur ernst und gelehrt. Viele Anekdoten ranken sich um Luthers Zeit auf der Veste. Eine besonders kuriose Geschichte erzählt vom Teufel, der angeblich in Gestalt einer Ratte erschien. Während Luther gerade die Psalmen studierte, störte ihn das Tier so sehr, dass er wütend einen Schemel nach ihm warf und ihm ein Bein zerschmetterte. Dies erinnert an die Legende vom Tintenfass, welches Luther auf der Wartburg ebenfalls auf den Teufel warf und das schließlich an der Wand zersprang. Der daraus resultierende Tintenfleck wurde von Besuchern der Wartburg dann als Souvenir abgekratzt, sodass heute dort nichts mehr zu sehen ist. Doch kehren wir zurück nach Coburg: Die Ratte, so heißt es weiter, habe sich nach dem Wurf des Schemels in der Kapelle versteckt und aus Rache die Sanduhr manipuliert, mit der Luther seine Predigten maß. Immer wenn der Sand verrann, drehte das Tier die Uhr erneut, sodass Luther schließlich stundenlang predigte, bis die Sonne unterging. Erst als die Kirche leer war, entdeckte der Reformator die Ratte, verfluchte sie und seither, so erzählt man sich, müsse der Teufel ewig die Sanduhr umdrehen.
Zahnstocher aus Luthers Bett
Auch über Luthers Mobiliar weiß man Kurioses zu berichten. Ein englischer Besucher soll von einem alten Weib den Rat erhalten haben, er solle einen Span aus Luthers Bett abbrechen und mit diesem gegen seine Zahnschmerzen vorgehen. Die Geschichte sprach sich herum, so sehr, dass Luthers angebliches Bett bald ramponiert war. Besucher stachen mit Messern nach Holzstücken, in der Hoffnung auf Linderung. Das Möbelstück musste schließlich aus dem Museum entfernt werden. Ob Luther je tatsächlich in genau diesem Bett geschlafen hat, bleibt allerdings zweifelhaft.
Trotz aller Mythen war Luthers Zeit auf der Veste Coburg nicht nur geprägt von Rückzug und Anekdoten, sondern auch von unermüdlicher Arbeit. In der Morizkirche predigte er, täglich betete er stundenlang – oft so laut, dass man ihn außerhalb seiner Kammer hören konnte. Sein Begleiter Veit Dietrich bewunderte seine Standhaftigkeit und unerschütterliche Glaubenszuversicht.
Luthers Monate auf der Veste Coburg sind ein einzigartiges Zeugnis jener Umbruchszeit. Zwischen Gelehrsamkeit, geistlichem Ringen und teuflischen Ratten spiegelt sich hier ein Mensch, der seine Überzeugungen trotz Isolation mit Leidenschaft verteidigte und dessen Wirken bis heute nachhallt.