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Stadt Coburg

Erinnerungskultur

Forschen gegen das Vergessen

Warum gerade Coburg? Ein neues Buch zeigt, wie die einstige Residenzstadt früh zur Hochburg des Nationalsozialismus werden konnte. Auf Basis umfangreicher Forschungsergebnisse belegt die Historikerin Dr. Eva Karl, wie Gewalt, Propaganda und lokale Strukturen den Weg in die Diktatur ebneten.

Wie konnte es geschehen, dass Coburg, eine bürgerlich und kulturell geprägte Residenzstadt, zur ersten nationalsozialistisch regierten Stadt Deutschlands wurde?

Diese Frage stand vor beinahe zehn Jahren am Anfang eines Forschungsprojekts, das der Coburger Stadtrat im Jahr 2015 in Auftrag gegeben hatte. Nun liegen die Ergebnisse in Form des Buches „Coburg voran!“ von der Historikerin Dr. Eva Karl vor, die bei ihrer Arbeit von einem wissenschaftlichen Beirat unter Leitung von Prof. Gert Melville begleitet wurde.

Das rund 800 Seiten umfassende Werk stellte Eva Karl am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, im Coburger Globe vor. Schon im Vorfeld war das Interesse groß: Die erste Auflage von 1000 Exemplaren ist bereits vergriffen, eine zweite Auflage befindet sich im Druck.

Während der Veranstaltung beantwortete Eva Karl Fragen, die aus der Bürgerschaft vorab eingereicht wurden. Dabei ging es um die Quellenlage, den Umfang ihrer Forschungen, die Funktionsweisen nationalsozialistischer Macht, das Leben unter dem NS-Regime sowie die Rolle des kommunalen Verwaltungsapparats. Warum gerade Coburg? – diese Frage beschäftigte das Publikum besonders.

Eva Karls Forschung zeigt, dass Coburg sich nicht nur wegen wirtschaftlicher oder sozialer Probleme früh von der Demokratie abwandte. Natürlich begünstigten die große Unsicherheit und Armut nach dem Ersten Weltkrieg radikale Ideen. Genauso wichtig waren jedoch die stark protestantische Prägung der Stadt, das Erbe der einstigen Residenzzeit und die engen Kontakte des ehemaligen Herzogs Carl Eduard zu rechten Gruppierungen.

Dadurch konnte die NSDAP in Coburg besonders schnell Fuß fassen: Schon 1922 wurde hier mit dem „Deutschen Tag“ ein wegweisendes Treffen für Hitlers Bewegung abgehalten, und 1929 erlangte der überzeugte Nationalsozialist Franz Schwede rücksichtslos die Mehrheit im Stadtrat. Nach Eva Karls Einschätzung geschah dies „ohne direkten Zwang“, sondern vor allem durch eine „beachtliche Bereitschaft zur Selbstmobilisierung“ seitens der Coburgerinnen und Coburger. Viele sahen darin offenbar eine Chance, ihre Stadt wieder zu neuem Glanz zu führen – und als „Vorreiterstadt“ im nationalen Aufbruch zu präsentieren.

Um ihre Macht in Coburg frühzeitig zu festigen und die Stadt zur „ersten NS-Stadt“ zu stilisieren, setzten die lokalen Nationalsozialisten vor allem auf zwei zentrale Mechanismen: Gewalt und Propaganda.

Erstens richteten sie ein gezieltes System der Einschüchterung ein. Eine von der Stadt eingesetzte „Notpolizei“ aus SA- und SS-Angehörigen verschleppte politische Gegner in die sogenannte Prügelstube in der Rosengasse oder ins Bezirksamt in der Allee 7. Dort wurden die Inhaftierten ohne jede Konsequenz für die Täter gedemütigt und gefoltert, was viele zum Schweigen oder zur Flucht trieb.

Zweitens nutzten Franz Schwede und seine Gefolgsleute eine massive Propaganda, um Coburg als Modellstadt eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwungs zu präsentieren. Hinter diesen Versprechen steckten jedoch oft Zwang und Unterdrückung, die von vielen Bürgerinnen und Bürgern stillschweigend mitgetragen wurden. Auf diese Weise festigte sich der Mythos Coburg als Vorreiterin im „Dritten Reich“, woraus die NS-Führung bis 1945 politischen Gewinn zog.

Die Präsentation des Buches im Globe ging weit über eine reine Lesung hinaus. Es wurden historische Fakten mit künstlerischen Elementen kombiniert, um die Atmosphäre der NS-Zeit zu veranschaulichen. So wurde ein jiddisches Wiegenlied, gesungen von einem Schauspieler als jüdischer Vater, abrupt von dröhnendem Trommelwirbel unterbrochen – Sinnbild für die Zerstörung von Menschlichkeit und Kultur im Nationalsozialismus. Filmmaterial, darunter der neu entdeckte Stummfilm „Hitler in Coburg 1932“, verdeutlichte die fanatische Begeisterung mancher Coburger für den „Führer“. Musikalische Beiträge, von romantischen Kompositionen bis hin zu Kirchenwerken, machten sichtbar, wie stark die kulturelle Identität der Stadt durch die NS-Diktatur beschädigt wurde.

Am Ende des Abends rückten Bilder von Zerstörung und Krieg in den Fokus. Dabei stand erneut die Frage im Raum, wie sich der demokratische Rechtsstaat gegen autoritäre Tendenzen behaupten kann. Für Gert Melville und Eva Karl sind vor allem Transparenz in der Politik, Toleranz gegenüber Andersdenkenden sowie Bildung und Kultur essenzielle Schutzfaktoren – um aus der Geschichte zu lernen und die Demokratie zu bewahren.