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Biographie
Johanna Loebenstein kam am 30. Juli 1889 in Mühlhausen (Thüringen) zur Welt. Ihr Vater Gustav Loebenstein wurde am 11. Juli 1855 in Mühlhausen, ihre Mutter Hermine Loebenstein, geb. Stettauer, am 13. Oktober 1863 in Nürnberg geboren. Johanna hatte drei Brüder[1]:
- Alfons Loebenstein (geboren am 18. Mai 1888 in Mühlhausen)
- Fritz Loebenstein (geboren am 7. Juni 1891 in Mühlhausen)
- Georg Loebenstein (geboren am 10. Februar 1898 in Mühlhausen)
Leben in Mühlhausen
Im Jahr 1881 lebten in Mühlhausen 196 jüdische Einwohner; bis 1910 sank ihre Zahl auf 168.[2] Eine kontinuierliche Präsenz jüdischer Familien lässt sich in der ehemaligen Reichsstadt seit dem Dreißigjährigen Krieg nachweisen, doch eine organisierte Gemeinde entstand erst 1806. Mit der Eingliederung Mühlhausens in das Königreich Westphalen (1807–1813) und der Einführung des „Code Napoléon“ erhielten die dort lebenden Juden rechtlich erstmals volle bürgerliche Gleichstellung. Dies begünstigte in den folgenden Jahrzehnten die Ansiedlung weiterer Familien und die Herausbildung stabiler Strukturen.
Die jüdische Gemeinde erreichte ihre größte Mitgliederzahl zwischen etwa 1850 und 1880 mit knapp 200 Personen. In dieser Phase gründete bzw. erneuerte sie wichtige Institutionen: 1841 wurde eine Synagoge eingeweiht, und 1872 erhielt die Gemeinde einen neuen, größeren Friedhof, da der mittelalterliche Begräbnisplatz nicht mehr ausreichte.
Die soziale und wirtschaftliche Struktur der Gemeinde war differenziert. Mehrere Mitglieder waren als Fabrikanten im Textilbereich (Wirkerei, Strickerei) tätig, andere betrieben kleinere Ladengeschäfte. Daneben existierte ein jüdisches Kaufhaus.[3] Diese ökonomische Vielfalt ermöglichte der Gemeinde eine gesicherte Stellung im städtischen Leben, wenngleich die Lebensverhältnisse einzelner Familien unterschiedlich ausfielen und nicht ausschließlich durch Wohlstand geprägt waren.
In dieser Gemeinschaft wuchs Johanna Loebenstein auf. Sie besuchte die örtliche Schule. Über ihre religiöse Sozialisation ist wenig bekannt.
Heirat
Am 15. Oktober 1910 heiratete Johanna Loebenstein in Mühlhausen den Augenarzt Dr. Reinhold Alkan (Öffnet in einem neuen Tab). Er war ebenfalls Jude und wurde am 30. April 1878 in Coburg geboren.[4] Ihr Schwiegereltern hießen Adolf Alkan und Minna Alkan, geborene Freund.
Das frischvermählte Ehepaar hatte zwei Töchter: Senta (Öffnet in einem neuen Tab), geboren am 8. August 1911[5] und Marianne (Öffnet in einem neuen Tab), geboren am 2. Mai 1913.[6]
Wachsender Antisemitismus
Nach ihrer Heirat zog Johanna Alkan zu ihrem Ehemann nach Coburg. Der gemeinsame Haushalt befand sich zunächst in der Mohrenstraße 6, später in der Lossaustraße 5. Dort führte Johanna Alkan den Haushalt, während ihr Mann im gleichen Haus eine augenärztliche Praxis betrieb.[7] Zwischen 1914 und 1918 diente Reinhold Alkan im Ersten Weltkrieg.[8]
Nach Kriegsende verschlechterte sich die gesellschaftliche Lage für die jüdische Bevölkerung in Coburg deutlich. Infolge der verbreiteten Dolchstoßlegende und der wirtschaftlich wie politisch instabilen Situation wurden auch hier Juden für die Niederlage und die Krisenjahre verantwortlich gemacht. Ab 1919 traten antisemitische Strömungen stärker öffentlich in Erscheinung, etwa durch Flugblätter, Zeitungsartikel, Plakate und Vorträge. Diese Propaganda verstärkte das Klima der Ausgrenzung und trug dazu bei, dass es in den folgenden Jahren vermehrt zu gewaltsamen Übergriffen kam.
Eine neue Phase begann nach dem Wahlerfolg der NSDAP bei den Kommunalwahlen 1929, durch den Coburg zur ersten Stadt mit nationalsozialistisch dominierter Stadtregierung wurde. In dieser Zeit häuften sich Sachbeschädigungen gegen jüdisches Eigentum sowie tätliche Angriffe auf jüdische Bürgerinnen und Bürger. Einzelne Betroffene versuchten, durch Strafanzeigen und Gerichtsverfahren gegen die Täter vorzugehen. Aufgrund der politischen Mehrheitsverhältnisse und der Nähe vieler Behörden zu den Nationalsozialisten blieben diese Bemühungen jedoch in der Regel ohne Erfolg. In den Jahren 1925 bis 1933 ging die Zahl der Gemeindemitglieder von 316 auf 233 zurück – ein Rückgang, der nicht allein auf antisemitische Ausgrenzung, sondern auch auf Abwanderung und demographische Veränderungen zurückzuführen war, wobei der politische Druck ein wesentlicher Faktor war.[9]
Trotz der schwieriger werdenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen konnte Reinhold Alkan seine berufliche Stellung in den 1920er-Jahren weiter festigen. 1922 wurde ihm der Titel Sanitätsrat verliehen, und er baute seine Praxis zu einer Privatklinik für Augenkrankheiten aus.[10] Von diesen beruflichen Erfolge profitierte auch die Familie.
NS-Zeit
Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und der raschen Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur änderte sich auch das Leben der Familie Alkan grundlegend. Am 1. April 1933 organisierte die NSDAP einen reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte, Praxen und Kanzleien, von dem auch die Coburger Klinik der Familie betroffen war.[11] Durch die „Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen“ vom 22. April 1933 verlor Johannas Ehemann seine kassenärztliche Zulassung, sodass er fortan einen Großteil seiner bisherigen Patientinnen und Patienten nicht mehr behandeln durfte.[12] Seine ärztliche Tätigkeit beschränkte sich seitdem auf die Behandlung jüdischer Erkrankter sowie auf Privatpatienten.
Die Töchter der Familie verließen im August 1933 Deutschland und emigrierten nach England – ein Schritt, den viele jüdische Familien zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht wagten.[13] Mitte 1934 gaben auch Johanna und Reinhold Alkan ihren Wohnsitz in Coburg auf. Über die genauen Umstände ist wenig bekannt. Anzunehmen ist aber, dass zunehmender wirtschaftlicher Druck und gesellschaftliche Ausgrenzung diesen Schritt notwendig machten. Das Ehepaar zog nach Mühlhausen, wo Verwandte von Johanna lebten.[14] 1938 übersiedelten sie nach Berlin-Wilmersdorf.[15] Dort erlebten sie die antisemitischen Novemberpogrome 1938, die mit massiver Gewalt gegen jüdische Menschen, der Zerstörung von Synagogen und Geschäften sowie zahlreichen Inhaftierungen verbunden waren.
Flucht und Aufenthalt in England
Johanna und Reinhold Alkan emigrierten Ende 1938 nach England. Um die für die Ausreise notwendigen finanziellen Mittel aufzubringen, veräußerte Johannas Ehemann das Haus in der Lossaustraße an den bisherigen Pächter, den Augenarzt Dr. Franz Dahmann. Die Regierung von Ober- und Mittelfranken genehmigte den Verkauf Mitte Dezember 1938; der Kaufpreis belief sich auf 42.000 Reichsmark. Angesichts der politischen Rahmenbedingungen nach den antisemitischen Novemberpogromen 1938 ist davon auszugehen, dass es sich um einen erzwungenen Verkauf im Kontext der sogenannten „Arisierung“ jüdischen Eigentums handelte.[16]
Das Ehepaar Alkan reiste bereits Anfang Dezember 1938 nach England ein[17] und hielt sich zunächst in Bristol auf, wo ihre Tochter Senta und deren Ehemann bereits lebten.[18] Dort fanden auch Johannas Schwägerin Rosita und ihr Mann Albert Sachs zeitweise Aufnahme. Sie hatten Deutschland 1939 verlassen, also noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs im September desselben Jahres.[19] Für das Ehepaar Sachs war der Aufenthalt in Großbritannien nur kurz. Im Oktober 1942 emigrierte das Ehepaar Sachs weiter in die Vereinigten Staaten.[20]
In England war Reinhold Alkan zunächst beruflich nicht tätig und bezeichnete sich als „Chirurg im Ruhestand“.[21] Ab 1941 konnte er offenbar wieder ärztlich arbeiten, wenngleich die genauen Umstände seiner Berufszulassung in Großbritannien nicht eindeutig dokumentiert sind.[22] 1942 zog das Ehepaar nach London[23], wo Reinhold Alkan am 3. Februar 1950 im Alter von 71 Jahren verstarb.[24] Sie selbst starb am 18. Dezember 1969 im Alter von 80 Jahren in einem jüdischen Pflegeheim in London.[25]
Quellen- und Literaturverzeichnis
[1] Stadtarchiv Mühlhausen: 11/225/2, Bd.9; Siehe auch: Stadtarchiv Mühlhausen: Heiratsurkunde von Reinhold Alkan und Johanna Loebenstein vom 15. Oktober 1910 (Nr.210); Siehe auch: Stadtarchiv Mühlhausen: Geburtsurkunde von Mercedes Johanna Loebenstein vom 3. August 1889 (Nr.629).
[2] Carsten Liesenberg, Zur Geschichte der Juden in Mühlhausen und Nordthüringen, S. 60; Siehe auch: Germania Judaica, Band III/2, Tübingen 1995, S. 885.
[3] Klaus-Dieter Alicke, Mühlhausen (Thüringen), in: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum (https://www.xn--jdische-gemeinden-22b.de/index.php/gemeinden/m-o/1349-muehlhausen-thueringen (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen 20.08.2024.
[4] Stadtarchiv Mühlhausen: Heiratsurkunde von Reinhold Alkan und Johanna Loebenstein vom 15. Oktober 1910 (Nr.210); Siehe auch: "Coburger Zeitung" vom 02.05.1878.
[5] "Coburger Zeitung" vom 25.08.1911.
[6] "Regierungs-Blatt für das Herzogtum Coburg" vom 14.05.1913, S. 217.
[7] Adressbuch der Stadt Coburg, Ausgabe 1911, S. 130.
[8] Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Abteilung IV Kriegsarchiv. Kriegsstammrollen, 1914-1918, Bd. 20036, Kriegsrangliste.
[9] Zusammenfassung von Hubert Fromm, Die Coburger Juden. Geschichte und Schicksal, Coburg ²2001.
[10] "Coburger Zeitung vom" 30.10.1922; Siehe auch: Adressbuch der Stadt Coburg, Ausgabe 1927, S. 219.
[11] "Coburger National-Zeitung" vom 31.03.1933.
[12] RGBl. I 1933, S. 222.
[13] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Alkan, Marianne.
[14] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Alkan, Reinhold und Johanna.
[15] Telefonbuch der Stadt Berlin, Ausgabe 1938, S. 14; Siehe auch: Fromm, Coburger Juden, S. 106.
[16] Stadtarchiv Coburg, A 10.316, fol. 66-88.
[17] Bundesarchiv, Abteilung R (Deutsches Reich), Liste der jüdischen Einwohner des Deutschen Reiches 1933-1945 (auch "Einwohnerliste" genannt).
[18] The National Archives London, 1939 Register, Referenz: RG 101/5036E; Royal College of Physicians of Ireland; Dublin, Ireland; The Medical Register; Referenznummer: TMR/1939.
[19] Ebd.; Siehe auch: Gaby Franger, Rosita Sachs, geb. Alkan(1882-1962), in: Geschichte der Coburger Juden. Eine virtuelle Ausstellung (https://coburger-juden.de/rosita-sachs-geb-alkan/ (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen am 09.08.2024. (offline)
[20] The National Archives London, HO 396 WW2 Internees (Aliens) Index Cards 1939-1947, Referenznummer: Ho 396/238.
[21] The National Archives London, HO 396 WW2 Internees (Aliens) Index Cards 1939-1947, Referenznummer: Ho 396/2.
[22] Royal College of Physicians of Ireland Dublin, The Medical Register, Referenznummer: TMR/1942; Wellcome Trust London, The Medical Directory, 1942; Referenz: B21330724_i13766417.
[23] The National Archives in Washington, DC, Passenger and Crew Lists of Vessels Arriving at New York, New York, 1897-1957, Mikrofilm-Seriennummer oder NAID: T715, Titel der Aufzeichnungsgruppe (RG, Record Group): Records of the Immigration and Naturalization Service, 1787-2004; RG: 85.
[24] Principal Probate Registry; London, England; Calendar of the Grants of Probate and Letters of Administration made in the Probate Registries of the High Court of Justice in England, S. 63.
[25] Birmingham Archives, England and Wales Probate Calendar, Referenz: 1971A.
Patenschaft
Die Patenschaft über den Stolperstein von Johanna Alkan haben Jonathan und Janet Isserlin übernommen.
