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Biographie
Helene Gutmann kam am 8. Dezember 1912 in Coburg zur Welt.[1] Ihr Vater Dr. Emil Gutmann (Öffnet in einem neuen Tab) wurde am 16. Juni 1877 in Coburg geboren, ihre Mutter Sofie Gutmann, geborene Grünewald (Öffnet in einem neuen Tab), kam am 18. September 1889 in Gießen zur Welt. Helene hatte eine Schwester:
- Margarethe (Öffnet in einem neuen Tab) (geboren am 22. Januar 1917 in Würzburg)
Leben in Coburg
Helene Gutmann verbrachte die ersten Lebensjahre mit ihrer Familie zunächst dort. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 wurde ihr Vater, der Chirurg Emil Gutmann, als Stabsarzt in ein bayerisches Militärlazarett nach Würzburg einberufen. Die Familie folgte ihm an seinen Einsatzort. Erst nach dem Ende des Krieges kehrte sie 1918 nach Coburg zurück[2], wo Emil Gutmann bereits seit 1905 eine Praxis für Chirurgie und Orthopädie in der Mohrenstraße 32 betrieb.[3] Dort lebte Helene gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Margarethe.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit kam es auch in Coburg, wie in vielen Teilen Deutschlands, zu einer deutlichen Zunahme antisemitischer Stimmung. Der militärische Zusammenbruch, die wirtschaftliche Not, politische Instabilität und die Etablierung der Weimarer Republik verstärkten vorhandene Ressentiments gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Antisemitische Agitation verbreitete sich insbesondere über Flugblätter, Zeitungsartikel und öffentliche Veranstaltungen, in denen Juden pauschal für Kriegsniederlage, „Novemberverbrechen“ und Inflation verantwortlich gemacht wurden. Diese Entwicklungen standen im Zusammenhang mit der Erstarkung völkischer und nationalistischer Gruppierungen, die in Franken – und speziell in Coburg – besonders früh Einfluss gewannen.
Coburg spielte in der Frühphase der NS-Bewegung eine bemerkenswerte Rolle: Schon 1922 marschierte Adolf Hitler mit Anhängern durch die Stadt, und bei den Stadtratswahlen im Dezember 1929 errang die NSDAP die Mehrheit. Coburg wurde damit zur ersten Stadt mit nationalsozialistischer Verwaltung in Deutschland.
Ab diesem Zeitpunkt kam es verstärkt zu Übergriffen auf jüdische Bürgerinnen und Bürger. Diese reichten von der gezielten Beschädigung jüdischen Eigentums bis hin zu körperlichen Angriffen auf Einzelpersonen. Betroffene versuchten, sich mit rechtlichen Mitteln – etwa durch Strafanzeigen oder Zivilklagen – gegen die Angriffe zur Wehr zu setzen. Diese Maßnahmen blieben jedoch weitgehend wirkungslos, da Justiz, Verwaltung und Polizei zunehmend von antisemitischen Einstellungen durchdrungen waren oder gegenüber der NSDAP kapitulierten.
Die sich verschlechternde Sicherheitslage führte in den frühen 1930er-Jahren zu einer allmählichen Abwanderung von Jüdinnen und Juden aus Coburg. Die Gründe für diesen Rückgang lagen sowohl in wachsendem gesellschaftlichem Druck und wirtschaftlicher Ausgrenzung als auch in der Furcht vor weiterer Radikalisierung.[4]
Helene Gutmann erlebte diese Entwicklung während ihrer Kindheit und Jugend. Sie besuchte ab etwa 1918 eine Schule in Coburg. Antisemitismus im Schulalltag war nicht einheitlich ausgeprägt: Während einige jüdische Schülerinnen und Schüler bis 1933 kaum antisemitische Anfeindungen erfuhren, berichten andere von Diskriminierung, Isolation und offenen Feindseligkeiten – sowohl durch Mitschüler als auch durch Lehrkräfte. Diese ambivalente Erfahrungslage spiegelt sich auch in biografischen Studien wider, etwa in den Arbeiten von Hubert Fromm.[5} Nach ihrer schulischen Ausbildung wollte Helene, wie ihr Vater, im medizinischen Bereich tätig werden. Sie arbeitete deshalb als Sprechstundenhilfe in der Klinik ihres Vaters.[6]
NS-Zeit
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Januar 1933 war Helene Gutmann unmittelbar mit den zunehmenden Repressionen gegen jüdische Ärzte konfrontiert. Bereits im Frühjahr 1933 kam es im Rahmen des reichsweiten Boykotts jüdischer Einrichtungen zu Aktionen gegen die orthopädische Klinik ihres Vaters Emil.[7]
Ein bedeutender Einschnitt in das berufliche Leben ihres Vaters folgte durch die Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen vom 22. April 1933.[8] Diese schloss sogenannte „nicht-arische“ Ärzte systematisch von der Behandlung gesetzlich versicherter Patienten aus. Emil Gutmann verlor in diesem Zuge seine kassenärztliche Zulassung und durfte fortan nur noch privat zahlende oder jüdische Patientinnen und Patienten behandeln. Die Praxis war dadurch erheblich in ihrer wirtschaftlichen Grundlage gefährdet, was sich auch auf die finanzielle Situation der Familie auswirkte.
1935 verließ Helenes Schwester Margarethe Deutschland, um ein Medizinstudium in Zürich aufzunehmen.[9] Ihre Ausreise fiel in eine Phase zunehmender Einschränkungen für jüdische Studierende und Berufsanfänger im Deutschen Reich.
Die Ausgrenzung jüdischer Ärzte wurde im weiteren Verlauf durch zusätzliche Maßnahmen verschärft. So wurden jüdischen Ärzte systematisch Patienten entzogen, etwa durch berufsrechtliche Einschränkungen, Kündigungen durch Kassenärztliche Vereinigungen und gesellschaftlichen Druck. Die Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938 markierte einen weiteren Höhepunkt der Entrechtung: Sie entzog allen als „nichtarisch“ geltenden Ärztinnen und Ärzten die Approbation mit Wirkung zum 30. September 1938.[10] Fortan durften diese lediglich als sogenannte „Krankenbehandler“ jüdische Patienten behandeln – eine Bezeichnung, die die vollständige gesellschaftliche und berufliche Marginalisierung ausdrückte.
Auch Emil Gutmann war von dieser Maßnahme betroffen. Damit war die Ausübung seines Berufs nicht nur rechtlich massiv eingeschränkt, sondern auch gesellschaftlich delegitimiert.
Wegzug und Flucht nach England
Nach dem zunehmenden Ausschluss von Juden aus dem deutschen Bildungs- und Berufsleben in den 1930er-Jahren verließ Helene Gutmann 1938 zunächst ihre Heimatstadt Coburg und zog nach Köln.[11] Über ihre dortige Lebenssituation ist wenig bekannt. Offenbar blieb sie nur kurze Zeit in der Stadt, bevor es ihr gelang, nach Großbritannien zu emigrieren – zu einem Zeitpunkt, als legale Ausreisemöglichkeiten für jüdische Deutsche bereits stark eingeschränkt waren.
Im Jahr 1939 lebte sie in Chichester, einer Stadt in der südenglischen Grafschaft West Sussex.[12] Wie viele jüdische Emigrantinnen arbeitete sie zunächst außerhalb ihres erlernten oder angestrebten Berufs, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. In ihrem Fall war sie als Hausangestellte tätig.
Trotz der prekären Umstände im britischen Exil nutzte Helene Gutmann die Zeit, um sich beruflich weiterzubilden. Sie qualifizierte sich für eine Tätigkeit im Gesundheitswesen und spezialisierte sich im Bereich der medizinischen Radiologie.[13] Im weiteren Verlauf absolvierte sie eine Ausbildung zur Röntgentechnikerin – eine Tätigkeit, die im britischen Gesundheitswesen unter der Berufsbezeichnung „radiographer“ geführt wurde und eine anerkannte medizinisch-technische Qualifikation darstellte.[14]
Helene Gutmanns berufliche Neuorientierung steht exemplarisch für viele jüdische Emigrantinnen, die im Exil nicht an ihre ursprüngliche Ausbildung anknüpfen konnten, aber dennoch Wege fanden, sich neu zu etablieren – häufig im Pflege-, Gesundheits- oder Bildungsbereich.
Umzug und Leben in den USA
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verließ Helene Gutmann Großbritannien und reiste zu ihren Eltern in die Vereinigten Staaten. Zuletzt hatte sie in Wakefield (West Yorkshire) gelebt. Ihre Ausreise erfolgte am 13. Mai 1946 über den Hafen von Liverpool an Bord der SS Drottningholm, einem schwedischen Passagierschiff, das in der Nachkriegszeit zur Beförderung von Displaced Persons und Emigranten eingesetzt wurde. Nach der Ankunft in New York reiste sie weiter nach Kalifornien, wo ihre Eltern in West Hollywood lebten. Dort bezog sie eine eigene Wohnung in ihrer Nähe.[15]
Bis mindestens 1950 lebte Helene Gutmann mit ihren Eltern gemeinsam in Beverly Hills. Nach dem Tod ihres Vaters Emi im Jahr 1956 kümmerte sie sich um ihre Mutter Sophie, die 1975 starb.[16]
Neben ihrer medizinischen Ausbildung und beruflichen Tätigkeit entwickelte Helene Gutmann ein ausgeprägtes Interesse an kulturellen und historischen Themen. Im Rahmen privater Reisen besuchte sie wiederholt europäische Städte, darunter auch ihre Geburtsstadt Coburg. Während dieser Aufenthalte dokumentierte sie mit der Kamera städtische Ansichten, insbesondere Orte von Bedeutung für die frühere jüdische Gemeinde. Diese Fotografien zeigte sie im Bekanntenkreis, unter anderem ehemaligen Coburger Juden, die wie sie im US-amerikanischen Exil lebten.[17]
Im Jahr 1978 wurde Helene Gutmann im Londoner British Museum auf eine illuminierte hebräische Handschrift aufmerksam – eine rund 500 Seiten umfassende Torarolle, bekannt als das „Coburg-Pentateuch“.[18] Diese Entdeckung weckte ihr Interesse an der Geschichte jüdischen Lebens in ihrer Heimatstadt. Über ihren privaten Kontakt zu dem damaligen Leiter der Landesbibliothek Coburg, Dr. Jürgen Erdmann, wurde man auch in der Vestestadt auf dieses wichtige Objekt jüdischer Geschichte aufmerksam. Damit waren die ersten wissenschaftliche Arbeiten zur mittelalterlichen jüdischen Geschichte Coburgs verbunden.[19] Die Rolle Helene Gutmanns dabei steht exemplarisch für die Rolle persönlicher Erinnerungsarbeit ehemaliger jüdischer Bürger im Exil.
Helene Gutmann blieb zeitlebens unverheiratet. Sie starb am 30. Januar 2006 im Alter von 93 Jahren in West Hollywood, Kalifornien.[20] Ihre letzte Ruhestätte fand sie an der Seite ihrer Eltern auf dem Rolling Hills Memorial Park in Richmond, Kalifornien.[21]
Quellen- und Literaturverzeichnis
[1] "Regierungs-Blatt für das Herzogtum Coburg" vom 18.12.1912, S. 514.
[2] Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Abteilung IV: Kriegsarchiv. Kriegsstammrollen, 1914-1918, Bd. 20342, Kriegsrangliste.
[3] Ebd.; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Gutmann, Emil und Sophie.
[4] Eva Karl, Coburg voran!“ Mechanismen der Macht – Herrschen und Leben in der „ersten nationalsozialistischen Stadt Deutschlands“, Regensburg 2025, S. 39-172.
[5] Hubert Fromm, Die Coburger Juden. Geschichte und Schicksal, Coburg ²2001, S. 247 (Beispiel: Esther Hirschfeld (Öffnet in einem neuen Tab)); S. 252f. (Beispiel: Hildegard Reinstein (Öffnet in einem neuen Tab)); S. 266f. (Beispiel: Max G. Löwenherz); S. 287 (Beispiel: Hans Morgenthau (Öffnet in einem neuen Tab)); S. 292 (Beispiel: Gertrude Mayer); S. 307 (Beispiel: Siegbert Kaufmann (Öffnet in einem neuen Tab)).
[6] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Gutmann, Helene
[7] "Coburger National-Zeitung" vom 31.03.1933.
[8] RGBl, I 1933, S. 222.
[9] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Gutmann, Margarethe.
[10] RGBl, I 1938, S. 969f.
[11] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Gutmann, Helene.
[12] The National Archives, Kew, London, 1939 Register; Referenz: RG 101/2615E.
[13] The National Archives, Kew, London, HO 396 WW2 Internees (Aliens) Index Cards 1939-1947, Referenznummer: Ho 396/31.
[14] National Archives at Riverside; Riverside, California; Declarations of Intention, 1887-1994; NAI-Nummer: 618171; Titel des Aufzeichnungssatzes: Records of District Courts of the United States, 1685-2009; Nummer des Aufzeichnungssatzes: 21.
[15] National Archives at Washington, DC, Seventeenth Census of the United States, 1950, Gebiet der Volkszählung: Beverly Hills, Los Angeles, California, Rolle: 2129; S. 75, Zählungsdistrikt: 19-218; National Archives at Washington, DC, Passenger and Crew Lists of Vessels Arriving at New York, New York, 1897-1957, Mikrofilm-Seriennummer oder NAID: T715, Titel der Aufzeichnungsgruppe (RG, Record Group): Records of the Immigration and Naturalization Service, 1787-2004, RG: 85.
[16] Social Security Administration; Washington D.C., USA; Social Security Death Index, Master File; Fromm, Coburger Juden, S. 106.
[17] Rio de Janeiro Brazil, Immigration Cards, 1900-1965. FamilySearch, Salt Lake City, Utah, 2013. Index entries derived from digital copies of original and compiled records, Filmnummer: 004768665.
[18] Ernst Eckerlein, Sie lieben noch ihre alte Heimat trotz allem, was geschah, in: Ebd., Coburger Heimat. Bd. VI, Coburg 1986, S. 73.
[19] Jürgen Erdmann, Der Coburg-Pentateuch, ein neuentdecktes Dokument der mittelalterlichen Geistes- und Kulturgeschichte Coburgs, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 25 (1980), S. 85–110.
[20] Social Security Administration. Social Security Death Index, Master File. Social Security Administration, Sozialversicherungsnummer: 558-38-5579.
[21] https://de.findagrave.com/memorial/74702667/helen-gutman (Öffnet in einem neuen Tab) (aufgerufen am 07.07.2025).
Patenschaft
Die Patenschaft über den Stolperstein von Helene Gutmann hat Nicole Eick übernommen.
