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Biographie
Siegfried Braun kam am 13. Februar 1873 in Elbing (Königreich Preußen, heute: Elbląg (Polen)) zur Welt.[1] Sein Vater, der Kaufmann Joseph Braun, wurde 1840, seine Mutter Mathilde Braun, geborene Weiß, am 19. Juli 1852 in Preußisch Stargard (Königreich Preußen, heute: Starogard Gdański, Polen) geboren. Siegfried war Einzelkind.
Jugend
Siegfried Braun verbrachte seine Jugend in der westpreußischen Stadt Elbing, die seit dem späten 18. Jahrhundert eine jüdische Bevölkerung aufwies. Erste Hinweise auf eine dauerhafte jüdische Ansiedlung finden sich ab 1783. Eine organisierte jüdische Kultusgemeinde bildete sich jedoch erst im Jahr 1849, was unter anderem mit dem Zuzug jüdischer Familien in der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammenhing.[2]
Eine erste Synagoge wurde bereits 1824 errichtet, was darauf hinweist, dass es bereits vor der offiziellen Gemeindegründung ein aktives religiöses Leben gab[3] – vermutlich organisiert durch eine lose Gemeinschaft von jüdischen Einwohnern. In dieser Synagoge feierte Siegfried Braun im Jahr 1886 seine Bar Mitzwa.
Während seiner Jugend war die Zahl der in Elbing lebenden Jüdinnen und Juden rückläufig. Lebten 1871 noch 549 jüdische Personen in der Stadt, sank diese Zahl bis 1905 auf 445.[4] Diese Entwicklung stand in einem breiteren demografischen und wirtschaftlichen Zusammenhang. In der Phase der Hochindustrialisierung veränderte sich das wirtschaftliche Profil Elbings grundlegend: Traditionelle Handelsberufe, in denen viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde tätig gewesen waren, verloren an Bedeutung. Gleichzeitig wuchsen neue Industriezweige wie der Schiffbau und die Maschinenindustrie, deren Strukturen weniger Raum für kleingewerbliche Selbstständigkeit boten. Hinzu kamen gesellschaftliche und politische Faktoren wie der zunehmende Antisemitismus und die Attraktivität der Großstädte, die bessere berufliche und kulturelle Möglichkeiten versprachen.
Vor diesem Hintergrund verließen viele jüdische Familien kleinere Städte wie Elbing und wanderten in urbane Zentren des Deutschen Reiches ab – darunter Berlin, Hamburg oder Breslau. Auch Siegfried Braun folgte diesem Trend: Nach Abschluss seiner Schulausbildung begann er eine kaufmännische Lehre und zog um das Jahr 1895 nach Berlin, wo er sich beruflich niederließ.[5]
Heirat
Am 27. April 1897 heiratete Siegfried in Berlin die Kaufmannstochter Clara Schwarz.[6] Sie war ebenfalls Jüdin und wurde am 31. August 1871 in Halle an der Saale (Königreich Preußen) geboren.[7] Das Ehepaar hatte einen Sohn: Erich (Öffnet in einem neuen Tab), geboren am 16. Februar 1898.[8] Seine Schwiegereltern waren Mendel Schwarz und Emilie Schwarz, geborene Schlesinger.
Umzug nach Coburg
Kurz nach ihrer Eheschließung verließ das Ehepaar Braun die Reichshauptstadt und ließ sich in Coburg nieder. Dort eröffnete Siegfried Braun in der Spitalgasse eine Filiale des Schuhwarengeschäfts Stern & Cie, das seinen Hauptsitz im thüringischen Apolda hatte.[9] Im Jahr 1903 trat Braun als persönlich haftender Gesellschafter in das Unternehmen ein.[10] Fünf Jahre später machte er sich selbstständig.[11]
Brauns Geschäftsgebaren lässt sich gut in den weiteren historischen Kontext der wirtschaftlichen Expansion während der Hochindustrialisierung im Deutschen Kaiserreich (1871–1914) einordnen. In dieser Zeit erlebte Deutschland ein starkes industrielles Wachstum, das unter anderem durch technischen Fortschritt, verbesserte Infrastruktur und eine wachsende Binnenkaufkraft begünstigt wurde. Der Konsum von Waren des täglichen Bedarfs – darunter Lebensmittel, Textilien und Schuhwaren – nahm in vielen Regionen zu. Braun konnte also mit seinem Geschäft viel Geld verdienen und für sich und seine Familie einen gewissen Wohlstand erwirtschaften.
Wachsender Antisemitismus
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges änderte sich das Leben für Juden in Coburg allerdings fast schlagartig. Viele Coburger machten sie für die Niederlage und das daraus resultierende wirtschaftliche und politische Chaos verantwortlich. So waren es zunächst Flugblätter, Zeitungsartikel, Plakate und Vorträge, die ab 1919 gegen die vermeintlichen Schuldigen für die Misere hetzten. Zusammen mit dem frühen Aufstieg des Nationalsozialismus in der Vestestadt bildete dies die Basis für die späteren Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung. In einer ersten Stufe, welche nach der Machtübernahme der Coburger Nationalsozialisten im Jahr 1929 einsetzte, nahmen zunächst die Beschädigungen gegen jüdisches Eigentum und Körperverletzungen gegen einzelne jüdische Bürger massiv zu. Die Juden ihrerseits versuchten sich in dieser Phase mit Anzeigen und Gerichtsprozessen zur Wehr zu setzen. Gebracht hat dies allerdings nichts. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung verließen viele Juden die Vestestadt, nachdem bis 1925 ein Anstieg der jüdischen Einwohnerzahlen zu verzeichnen war. Umfasste die jüdische Gemeinde 1925 noch 316 Personen, so sank deren Zahl bis 1933 auf 233 ab.[12]
Siegfried Braun war von dieser antisemitischen Entwicklung stark betroffen. Schon früh riefen die Nationalsozialisten zum Boykott des Schuhwarengeschäfts Braun auf. Ein Beispiel für solche Aufrufe war eine Werbeaktion in der Coburger National-Zeitung. Im Februar 1931 veranstaltete man unter dem Kennwort „Der Geschäftsjude“ ein Preisausschreiben, bei dem erstmals in einer deutschen Stadt zum Boykott jüdischer Unternehmen aufgerufen wurde. Die betroffenen Geschäftsleute, darunter auch Siegfried Braun, wehrten sich und schalteten die Gerichte ein. In der Berufungsinstanz vor dem Oberlandesgericht Bamberg waren sie schließlich erfolgreich: Die Zeitung wurde zu einer geringen Geldstrafe verurteilt und verpflichtet, künftig keine weiteren Boykottaufrufe mehr zu veröffentlichen.[13]
NS-Zeit
Nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler eskalierte die Situation zunehmend. Im März 1933 wurde Siegfried Braun von SA-Männern, die sich selbst als „Not-Polizisten“ bezeichneten und als Unterstützung für die reguläre Stadtpolizei eingesetzt worden waren, in sogenannte Schutzhaft genommen. Diese Schutzhaft diente nicht dem Schutz, sondern war ein willkürliches und repressives Instrument zur Verfolgung von Juden und politischen Gegnern, ohne jede rechtliche Grundlage. Sie bildete die Grundlage für die systematische Verfolgung im nationalsozialistischen Terrorregime, die später in der Errichtung von Konzentrationslagern und der industrialisierten Vernichtung gipfelte. Besonders gefährdet waren Juden, die öffentlich bekannt, wirtschaftlich erfolgreich oder gesellschaftlich engagiert waren. Zu dieser Gruppe gehörte auch Siegfried Braun. Er wurde in die berüchtigte „Prügelstube“ im Gebäude der Stadtpolizei in der Rosengasse gebracht.[14] Diese Einrichtung diente dazu, politische Gegner und jüdische Bürger gezielt einzuschüchtern und zu misshandeln. Über das Schicksal Siegfried Brauns sagte ein Zeuge im Jahr 1951 während des sogenannten „Prügelstuben-Prozesses“ aus, dass der Kaufmann „dort mindestens einmal, und zwar in der Nacht vom 25. auf den 26. März 1933 mißhandelt worden [war]. „Braun war schwer zerschlagen, als er in den Unterkunftsraum zurückkam, er hat sehr gezittert und trug seine Hose in der Hand.“[15] Neben Siegfried wurde auch sein Sohn Erich verhaftet und von „Schutzpolizisten“ misshandelt.[16]
Ende März 1933 rief die NSDAP zum Boykott des Schuhwarengeschäfts auf.[17] Dieser Boykott war Teil der reichsweiten Kampagne vom 1. April 1933, die von der NSDAP organisiert wurde. Infolge des Boykotts gingen die Umsätze des Geschäftes stark zurück. Siegfried Braun entschloss sich deshalb, seine Firma aufzugeben. Nach dem Totalausverkauf des Warenlagers inserierte er seine Ladenräume im August 1933 in der Fachzeitschrift „Schuh und Leder“.[18] Noch im gleichen Monat verkaufte Braun sein Geschäft mitsamt der Einrichtung und der noch vorhandenen Warenlagerbestände für 21.650 Reichsmark an den Schuhwarenhändler Kurt Sitte.[19]
Die anhaltende Angst vor weiteren Misshandlungen und antisemitischen Übergriffen führte im Herbst 1933 dazu, dass das Ehepaar Braun seine Wohnung in der Bahnhofstraße 36 in Coburg aufgab. Sie hatten diese Wohnung seit 1931 bewohnt. Für eine Übergangszeit fanden die Brauns eine Unterkunft im Haus der jüdischen Pferdehändler Karl (Öffnet in einem neuen Tab) und Hugo Friedmann in der Rosenauer Straße 15.[20] Auch diese Phase ihres Aufenthalts war durch Unsicherheit geprägt. Unter dem Eindruck der verschärften Repressionen entschieden sich Siegfried und Klara Braun Ende 1933, die Vestestadt endgültig zu verlassen. Anfang Januar 1934 kehrten sie nach Berlin zurück, von wo sie 37 Jahre zuvor nach Coburg gezogen waren [21] Ihre Rückkehr in die Reichshauptstadt stellt keine freiwillige Rückwanderung im klassischen Sinn dar, sondern diente wohl als eine Schutzmaßnahme angesichts der lokalen Verfolgung.
In Berlin wurden die Brauns mit der fortschreitenden Entrechtung der jüdischen Bevölkerung im NS-Staat konfrontiert. Dazu gehörten insbesondere die Nürnberger Gesetze von 1935, mit denen die deutsche Staatsbürgerschaft für Juden systematisch entzogen und Eheschließungen sowie sexuelle Kontakte zwischen Juden und „Ariern“ kriminalisiert wurden. Die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 markierte eine neue Qualität staatlicher Gewalt. Ob die Familie Braun von der Zerstörung jüdischer Einrichtungen oder den Massenverhaftungen unmittelbar betroffen war, ist nicht dokumentiert.
Siegfrieds Sohn Erich, der 1934 nach einer Inhaftierung im Konzentrationslager Dachau zu seinen Eltern nach Berlin zurückgekehrt war, entschied sich angesichts der zunehmenden Verfolgung zur Emigration. Im Jahr 1938 gelang ihm die Flucht per Schiff in die französische Kolonie Französisch-Äquatorialafrika.[22]
Die Eltern hingegen verblieben in Berlin. Dort verstarb Klara Braun am 8. Oktober 1939 im Alter von 68 Jahren.[23] Über das weitere Schicksal von Siegfried Braun sowie über mögliche Fluchtabsichten oder Versuche, Deutschland zu verlassen, liegen bisher keine belastbaren Quellen vor. Es bleibt daher unklar, inwiefern er aktiv einen Weg ins Exil suchte oder ihm dies durch bürokratische und materielle Hürden verwehrt blieb.
Deportation und Tod
Am 24. Oktober 1941 wurde Siegfried Braun zusammen mit über 1.000 weiteren Jüdinnen und Juden aus Berlin in das von den Deutschen als Litzmannstadt bezeichnete Ghetto Łódź im besetzten Polen deportiert.[24] Es handelte sich um den zweiten Deportationszug aus der Reichshauptstadt in dieses Ghetto. Die Deportation war Teil eines schrittweisen Prozesses, in dem die nationalsozialistische Führung spätestens ab Sommer 1941 begann, die Ermordung der europäischen Juden systematisch vorzubereiten und umzusetzen.
Die Verschleppung erfolgte kurz nach dem am 23. Oktober 1941 erlassenen Ausreiseverbot für jüdische Menschen aus dem Deutschen Reich, das faktisch den Beginn großangelegter Deportationen markierte. Es bedeutete, dass Juden nicht mehr emigrieren durften, und diente der organisatorischen Vorbereitung der Massentransporte in Ghettos und Lager. Eine ergänzende Anordnung vom 4. November 1941 sah weitere Transporte in die besetzten Ostgebiete vor. [25]
Das Ghetto Łódź war bereits im Februar 1940 errichtet worden und galt als eines der am längsten bestehenden Ghettos im deutsch besetzten Europa. Die Lebensbedingungen dort waren von Anfang an katastrophal: Die Menschen litten unter extremer Unterversorgung, unzureichender medizinischer Betreuung und einer völlig unzureichenden Infrastruktur. Krankheiten wie Typhus und Tuberkulose breiteten sich schnell aus, insbesondere durch die hohe Bevölkerungsdichte. Allein im Jahr 1941 starben zehntausende Menschen an den Folgen von Hunger, Kälte und mangelnder Hygiene[26] – Schätzungen gehen von über 43.000 Todesfällen im Ghetto zwischen 1940 und 1944 aus.[27] Diese Zustände waren kein unbeabsichtigtes Ergebnis, sondern Teil einer bewusst in Kauf genommenen Politik der Vernachlässigung und Auszehrung, die von der nationalsozialistischen Führung zur „Entlastung“ der Ghettos eingesetzt wurde.
Siegfried Braun überlebte diese lebensfeindlichen Bedingungen im Ghetto nicht. Er starb am 23. Januar 1942 im Ghetto-Krankenhaus Litzmannstadt im Alter von 68 Jahren offiziellen Angaben zufolge an Herzversagen. Angesichts der allgemeinen Versorgungslage ist es wahrscheinlich, dass Mangelernährung und unzureichende medizinische Hilfe zu seinem Tod beitrugen.[28]
Quellen- und Literaturverzeichnis
[1] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Braun, Siegfried und Klara.
[2] Klaus-Dieter Alicke, Elbing (Westpreußen), in: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum (https://www.xn--jdische-gemeinden-22b.de/index.php/gemeinden/e-g/553-elbing-westpreussen (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen 28.03.2025.
[3] Ebd.
[4] Siegbert Neufeld, Geschichte der jüdischen Gemeinde Elbing, Regensburg 1992; S. 26; Siehe auch: The New York University Press (Hrsg.), Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust. Vol. 1, New York 2001, S. 359.
[5] Landesarchiv Berlin, Personenstandsregister Heiratsregister 1874-1936, Urk-Nr. 372.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Braun, Erich und Ruth.
[9] "Coburger Zeitung" vom 31.01.1903.
[10] Ebd.
[11] "Regierungs-Blatt für das Herzogtum Coburg" vom 18.01.1908, S. 80.
[12] Zusammenfassung von Hubert Fromm, Coburger Juden. Geschichte und Schicksal, Coburg ²2001.
[13] Fromm, Coburger Juden, S. 52ff.
[14] Stadtarchiv Coburg, A 7864, fol. 86.
[15] Zitiert nach Fromm, Coburger Juden, S. 67.
[16] Fromm, Coburger Juden, S. 313.
[17] "Coburger National-Zeitung" vom 31.03.1933.
[18] "Schuh und Leder" vom 08.08.1933.
[19] Eva Karl, „Coburg voran!“ Mechanismen der Macht – Herrschen und Leben in der „ersten nationalsozialistischen Stadt Deutschlands“, Regensburg 2025, S. 594.
[20] Stadtarchiv Coburg, Einwohnerkartei, Braun, Siegfried und Klara.
[21] Ebd.
[22] Fromm, Coburger Juden, S. 317.
[23] Landesarchiv Berlin, Personenstandsregister Sterberegister, Nr. 4563.
[24] II. Transport. Abfahrtsdatum: 24.10.41, Deportationsziel: Litzmannstadt, Liste der „Eingesiedelten“, in: Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich (https://www.statistik-des-holocaust.de/OT2-5b.jpg (Öffnet in einem neuen Tab)), aufgerufen am 04.04.2025.
[25] Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Heidelberg ²1996, S. 353, 355.
[26] Bernd Ulrich, „Vor Hunger starben Alte und Junge“ – Vor 70 Jahren wurde das jüdische Ghetto Litzmannstadt abgeriegelt. Kalenderblatt von Deutschlandradio, 30.04.2010, abgerufen am 01.05. 2010.
[27] Sascha Feuchert / Erwin Leibfried / Jörg Riecke (Hrsg.), Die Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt, (Schriftenreihe zur Lodzer Getto-Chronik), Göttingen 2016, S. 32.
[28] United States Holocaust Memorial Museum; Washington, D.C.; Lódz, Poland, Vital Records of Jews in the Lódz Ghetto, 1939-1944; Aufzeichnungsgruppe: rg-15_083m.
Patenschaft
Die Patenschaft über den Stolperstein von Siegfried Braun hat Maria Mehl übernommen.
