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Biographie
Heinrich Zucker kam am 24./29 April 1881 in Osiek Jasielski, Galizien (Österreich-Ungarn) zur Welt.[1] Seine Eltern hießen Hersch (Hermann) Zucker und Sara Zucker, geb. Haselbeck.[2] Zu möglichen Geschwistern sind keine gesicherten Informationen überliefert.
Leben in Osiek Jasielski
Jüdische Einwohner sind in Osiek Jasielski seit dem späten 18. Jahrhundert nachweisbar. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten dort schätzungsweise 50 jüdische Familien mit über 200 Menschen, was einenm Bevölkerungsanteil von nahezu 25% entsprach[4], im regionalen Vergleich ein überdurchschnittlich hoher Wert.[4] Zunächst nutzten die jüdischen Bewohner Osiek Jasielskis die religiösen Einrichtungen der rund fünf Kilometer entfernten Gemeinde Zmigrod, einschließlich des Friedhofs. Im Laufe des 19. Jahrhunderts baute die Gemeinde jedoch eine Synagoge und Mikwe. Zudem konnte sie zudem einen eigenen Rabbiner gewinnen, der sich um die religiösen Belange kümmerte und vermutlich auch Unterricht stellte. Die jüdische Bevölkerung setzte sich hauptsächlich aus Hausierern, Kleinunternehmern, Handwerkern, Bauern und Pferdehändlern zusammen. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg wanderten viele jüdische Familien aus Osiek Jasielski ab, da sie sich in den rasch entwickelnden Städten eine bessere wirtschaftliche Perspektive erhofften.[5] Einer von ihnen war Heinrich Zucker, der in Osiek Jasielski vermutlich1894 seine Bar Mitzwa feierte und die hiesige Schule besuchte. Nach Beendigung seiner Schulzeit absolvierte er erfolgreich eine Lehre zum Kaufmann.[6]
Heirat und Umzug nach Coburg
Bevor Heinrich Zucker seinen Lebensmittelpunkt in die Vestestadt verlegte, lebte er ab etwa 1903 in Apolda (Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach). Dort war er unter der Adresse Realschulstraße 11 gemeldet. Das Adressbuch der Stadt nennt ihn als „Reisenden“ – ein Begriff, der auf einen Handelsvertreter oder Handelsreisenden hinweist. In Apolda wurde er teils auch mit den Vornamen „Hugo“ oder „Huna“ geführt.[7]
Am 1. Juni 1909 heiratete Heinrich Zucker in Coburg Setty Glücksmann.[8] Setty war ebenfalls Jüdin und kam 30. August 1886 in Strzemieszyce (Schlesien, Russisches Reich) zur Welt.[9] Ihre Eltern waren Jakob und Adele Glücksmann (geb. Bander).[10] Am 23.März 1910 wurde in Apolda ihr erstes Kind Leo (Leonhard) geboren.[11] Zu diesem Zeitpunkt lebte die Familie in der Dornsgasse 17.[12] Wahrscheinlich zog Heinrich Zucker noch im selben Jahr nach Coburg in die Rosengasse 12.[13] Setty blieb mit dem neugeborenen Sohn zunächst in Apolda zurück, folgte aber ihrem Ehemann im Juli 1910. Die Familie wohnte nun gemeinsam im Steinweg 19.[14] Am 1.April 1911 übernahm Heinrich Zucker dort das Schuhgeschäft „Ernst Beyersdorf“ samt angeschlossener Schusterei.[15] Am 18. Oktober wurde die Tochter Erna geboren.[16]
Während des Ersten Weltkrieges diente Heinrich Zucker von 1914 bis 1918 als Soldat und wurde für seine militärischen Leistungen mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.[17] Während dieser Zeit war die finanzielle Situation der Familie angespannt. Nach dem Tod von Settys Vater Jakob Glücksmann am 3. Februar 1917[18] zog dessen Witwe Adele Glücksmann zu ihrer Tochter und Schwiegersohn in den Steinweg 19.[19]
Wachsender Antisemitismus
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte sich das Leben für Juden in Deutschland und damit auch in Coburg schrittweise verändert. Viele Menschen machten sie für die Kriegsniederlage und das daraus resultierende wirtschaftliche und politische Chaos verantwortlich. Ab 1919 wurden zunehmend Flugblätter, Zeitungsartikel, Plakate und Vorträge verbreitet, die gezielt gegen die vermeintlichen Schuldigen dieser Misere hetzten. Zusammen mit dem frühen Aufstieg des Nationalsozialismus in der Vestestadt bildete dies die Basis für die späteren Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung. Mit der Machtübernahme der Coburger Nationalsozialisten im Jahr 1929 begann eine erste Welle der Gewalt: Die Zerstörung jüdischen Eigentums und körperliche Angriffe auf einzelne jüdische Bürger nahmen drastisch zu. Die jüdische Gemeinschaft versuchte sich in dieser Zeit mit Anzeigen und Gerichtsprozessen zu wehren, doch ihre Bemühungen blieben erfolglos. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung verließen viele Juden die Vestestadt, nachdem bis 1925 ein Anstieg der jüdischen Einwohnerzahlen zu verzeichnen war. Umfasste die jüdische Gemeinde 1925 noch 316 Personen, so sank deren Zahl bis 1933 auf 233 ab.[20]
In den 1920er und frühen 1930er Jahren war die Familie Zucker zunehmendem Antisemitismus ausgesetzt, der sich sowohl in verbalen Anfeindungen als auch in alltäglicher Ausgrenzung bemerkbar machte. Im Juli 1931 versuchte ein junger Mann Heinrich und Setty Zucker, die abends in der Spitalgasse spazierten, in ein Schaufenster zu stoßen. Ein Begleiter des Täters kommentierte den Vorgang mit den Worten: „Hättest du ihn doch ins Fenster gerammelt.“[21]
NS-Zeit
Nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 verloren die Nationalsozialisten in Coburg keine Zeit, um mit den sogenannten „Feinden der Bewegung“ abzurechnen. Heinrich Zucker blieb zwar die Misshandlung und Folter in der sogenannten „Prügelstube“ erspart, doch rief die NSDAP öffentlich zum Boykott seines Schuhgeschäftes auf.[22] Die antisemitische Hetze zeigte Wirkung. Mehrere Tage lang kam kein Kunde in das Schuhgeschäft, die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich spürbar.[23]
Ende 1934 erhielt Heinrich Zucker das „Ehrenkreuz für Kriegsteilnehmer“[24], eine Auszeichnung, die nach dem Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburgs vom „Führer und Reichskanzler“ Adolf Hitler verliehen wurde. Das Ehrenkreuz wurde nach Antrag einer berechtigten Person zugesandt.[25] Viele Gegner oder Verfolgte des NS-Regimes verbanden mit dieser Auszeichnung die Hoffnung, ihre Loyalität zum Staat und ihre Leistungen im Ersten Weltkrieg könnten sie vor weiterer Verfolgung schützen – eine Hoffnung, die sich angesichts der rassistischen Radikalisierung des NS-Regimes als trügerisch erwies.[26] Die wirtschaftliche Not zwang Heinrich Zucker schließlich dazu, neben dem Geschäft auch als Hausierer tätig zu sein, um das Überleben seiner Familie zu sichern.[27]
Reichspogromnacht und Flucht
Den Anschlag des deutsch-polnischen Juden Herschel Grynszpan auf den Gesandtschaftsrat vom Rath am 7. November 1938 in Paris nutzte das NS-Regime als Vorwand für eine reichsweit koordinierte Gewaltaktion gegen die jüdische Bevölkerung. In Coburg kam es zu schwereren Misshandlungen von jüdischen Einwohnern sowie zu Zerstörung jüdischen Eigentums. Nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurden Heinrich Zucker und seine Frau aus ihrem Haus geholt, gemeinsam mit anderen Coburger Juden durch die Stadt getrieben und auf dem Marktplatz an den Pranger gestellt. Ihr Sohn Leo Zucker entging dieser Demütigung, da er bereits im April 1926 nach Nürnberg verzogen war.[28] Ihre Tochter Erna Zucker hatte Coburg ebenfalls verlassen. Sie war im November 1933 illegal nach Paris geflohen.[29]
Während Frauen und Kinder nach dem öffentlichen Demütigung in ihre Wohnungen zurückkehren durften, wurden Heinrich Zucker und andere jüdische Männer in die alte Angerturnhalle gebracht. Von dort aus war eine Deportation von 16 Männern in das Konzentrationslager Dachau geplant, die jedoch aufgrund von Überfüllung des Lagers nicht realisiert wurde. Stattdessen brachte man die Inhaftierten in das Gefängnis nach Hof an der Saale. Ob Heinrich Zucker zu den Verschleppten gehörte, lässt sich nicht eindeutig belegen.[30]
Mit den Verordnungen „zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 sowie „über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938 war Juden nicht nur die weitere Geschäftsführung von Gewerbebetrieben rechtlich untersagt worden, sie mussten zudem ihre Geschäfte und Grundeigentum verkaufen.[31] Am 28. Dezember 1938 erfolgte die erzwungene Abmeldung von Heinrich Zuckers Schuhgeschäft.[32] Eine offizielle Abwicklung wurde seitens der Stadtverwaltung als unnötig angesehen, da der verbliebene Warenbestand als „unbedeutend“ eingestuft wurde.[33] Ein klares Indiz dafür, wie existenzvernichtend Boykott, Einschüchterung und antisemitische Gewalt bereits vor den offiziellen Enteignungsverordnungen gewirkt hatten.
Das Ehepaar Zucker verbrachte seine letzten Monate in Coburg in Judengasse 8. Im November 1939 gelang es Heinrich und Setty Zucker mit nur zehn Reichsmark in der Tasche die Flucht aus Deutschland. Unterstützung hatten sie von ihrer Tochter Erna erhalten, die inzwischen von Paris nach Genua geflohen war. Von der italienischen Hafenstadt reisten Heinrich und Setty Zucker nach Rivera in Argentinien aus, wo ihr Sohn Leo bereits seit 1938 lebte.[34]
Vom nationalsozialistischen Regime waren Heinrich Zucker nahezu alle Lebensgrundlagen genommen worden. Bei der Enteignung seines letzten verbliebenen Vermögens beschlagnahmte das Deutsche Reich sein Sparguthaben bei der Berliner Staatsbank - ganze 4,75RM.[35]
Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Heinrich Zucker in Rivera, einem argentinischen Dorf mit einer bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts bestehenden jüdischen Agrarkolonie. Diese war von der „Jewish Colonization Association“ gegründet worden, die jüdischen Geflüchteten aus Osteuropa Land, etwa 150 Hektar, zur Verfügung stellte. Rivera verfügte über eine Synagoge, einen Friedhof, ein Theater, eine Bibliothek sowie eine spanisch-sprachige und jüdische Schule. Heinrich Zucker arbeitete in seiner neuen Heimat als Landwirt unter schwierigen klimatischen Bedingungen.[36] Dort starb er am 18. Dezember 1944.[37]
Quellen- und Literaturverzeichnis
[1] Staatsarchiv Coburg: AG Co. 54667, fol.8; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Zucker, Heinrich und Setty.
[2] Staatsarchiv Coburg: AG Co. 54667, fol. 2,4,9.
[3] Leibner, William: Osiek, in: Abraham Wein et Aharon Weiss (Hrsg.): Encyclopedia of Jewish Communities, Poland, Vol. III, Western Galicia, Slesia (Translation of Pinkas hakehillot Polin: entsiklopedyah shel ha-yishuvim ha-Yehudiyim le-min hivasdam ve-`ad le-ahar Sho'at Milhemet ha-`olam ha-sheniyah), Jerusalem 1984, S.54f.
[4] Sulimierski, Filip et Wladyslaw Walewski (Hrsg.): Slownik geograficzny Królestwa Polskiego i innych krajów slowianskich. Bd.7 Netrebka-Perepiat, Walewskiego, Warschau 1886, S.629-631, hier S.629.
[5] Leibner, William: Osiek Jasielski – Galicia, Poland, in: Jane Waldmann Aronson (Hrsg.): Halbów (Nowy Zmigrod, Poland), o.O. 2014, S.243-262, hier S.243f., abgerufen unter: (https://www.jewishgen.org/Yizkor/nowy_zmigrod1/now243.html (Öffnet in einem neuen Tab)), letzter Zugriff: 28.03.2025; Siehe auch: Leibner, William: Osiek Jasielski – Galicia, Poland, in:Leibner, William et Jane Waldman Aronson (Hrsg.): Memorial Book of Nowy Zmigrod - Galicia, Poland, New York 2019, S.149-167, hier S.149f.
[6] Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Zucker, Heinrich und Setty.
[7] Adreßbuch der Stadt Apolda. 1904, Apolda [1904], S.121; Siehe auch: Adreß-Buch für die Fabrik- und Handelsstadt Apolda 1908, Apolda [1908], S.163; Siehe auch: Adreß-Buch für die Fabrik- und Handelsstadt Apolda 1909, Apolda [1909], S.167.
[8] Staatsarchiv Coburg: AG Co. 54667, fol. 8. Siehe auch: „Regierungsblatt für das Herzogtum Coburg“ vom 19. Juni 1909.
[9] Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Zucker, Heinrich und Setty.
[10] Stadtarchiv Coburg: Sterbebucheintrag Glücksmann, Adele; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg: Sterbebucheintrag Glücksmann, Jakob.
[11] Stadtarchiv Apolda: Geburtsurkunde Leo Zucker vom 23. März 1910; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Zucker, Leo.
[12] Stadtarchiv Apolda: Geburtsurkunde Leo Zucker vom 23. März 1910; Siehe auch: Adreß-Buch für die Fabrik- und Handelsstadt Apolda, 1910, Apolda [1910], S.172
[13] Adressbuch 1911 für die Herzogl. Residenzstadt Coburg und Umgebung, Coburg [1911], S.78.
[14] Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Zucker, Leo.
[15] „Coburger Zeitung“ vom 2. Juni 1911; Siehe auch: Adressbuch 1911, S.10.
[16] Staatsarchiv Coburg: AG Co. 54667, fol. 9; Siehe auch: „Coburger Zeitung“ vom 29. Oktober 1911; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Zucker, Erna.
[17] Fromm, Hubert: Lebensbilder, in: Hubert Fromm (Hrsg.): Die Coburger Juden. Geduldet – Geächtet –Vernichtet, 3.Aufl., Coburg 2012, S.156-256, hier S.182.
[18] Stadtarchiv Coburg: Sterbebucheintrag Glücksmann, Jakob.
[19] Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Glücksmann, Adele.
[20] Zusammenfassung bei Hubert Fromm, Die Coburger Juden. Geschichte und Schicksal, Coburg ²2001.
[21] Stadtarchiv Coburg: A 8521_1 fol.18,42. Zitat fol.42; Siehe auch: Karl, Eva: „Coburg voran!“. Mechanismen der Macht – Herrschen und Leben in der „ersten nationalsozialistischen Stadt Deutschlands“, Regensburg 2025, S.530.
[22] „Coburger National-Zeitung“ vom 31. März 1933.
[23] Fromm: Lebensbilder, S.182.
[24] RGBl, I 1934 , S.619.
[25] Fromm: Lebensbilder, S.183.
[26] Berger, Michael: Für Kaiser, Reich und Vaterland: Jüdische Soldaten, Zürich 2015, S.176.
[27] Stadtarchiv Coburg: A 10395 fol.1; Siehe auch: Fromm: Lebensbilder, S.182.
[28] Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Zucker, Leo.
[29] Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Zucker, Erna.
[30] Fromm, Hubert: Der Antisemitismus von 1919 bis 1942, in: Hubert Fromm (Hrsg.): Die Coburger Juden. Geduldet – Geächtet – Vernichtet, 3.Aufl., Coburg 2012, S.1-138, hier S.95-102.
[31] RGBl, I 1938, S.1580, 1709-1712; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg: A10 395 fol.64.
[32] Stadtarchiv Coburg: A11 291, fol.25f.; Siehe auch: Karl: „Coburg voran!“, S.615.
[33] Stadtarchiv Coburg: A10 395, fol.117f.; Siehe auch: Karl: „Coburg voran!“, S.616.
[34] Fromm: Lebensbilder, S.183f.; Siehe auch: Stadtarchiv Coburg: Einwohnermeldekarte Zucker, Heinrich und Setty.
[35] Staatsarchiv Coburg: Finanzamt 248.
[36] Staatsarchiv Coburg: AG Co. 54667, fol.4; Siehe auch: Eglau, Victoria: Rivera. Ein jüdisches Dorf in der argentinischen Pampa, in: Deutschlandfunk Kultur vom 25.12.2015, abgerufen unter: (https://www.deutschlandfunkkultur.de/rivera-ein-juedisches-dorf-in-der-argentinischen-pampa-100.html (Öffnet in einem neuen Tab)), letzter Zugriff: 02.04.2025.
[37] Staatsarchiv Coburg: AG Co. 54667 fol.1a,2,4; Siehe auch: Fromm: Lebensbilder, S.183.
Patenschaft
Die Patenschaft über den Stolperstein von Heinrich Zucker hat Angela Platsch übernommen.
